Der Personalbereich erlebt seit einigen Jahren einen großen Entwicklungsschub. Die dafür verfügbaren Innovationsangebote haben überwiegend mit Technologie zu tun. Gleichzeitig ist der Bedarf für eine Professionalisierung durch Digitalisierung im HR-Bereich oft recht hoch. Die Notwendigkeit Geschäftsprozesse von HR-Seite erfolgreich zu begleiten und der Wettbewerb am Talentmarkt tun ihr Übriges dazu beitragen. Kurzum: HR ist ohne cleveren Technologieeinsatz auf verlorenem Posten. Die technologischen Weichen werden nun dafür gestellt, wie Unternehmen in digitalen HR-Prozessen zukünftig aufgestellt sein werden. Insbesondere die Themen Digital Recruitment und People Analytics sind dabei im Fokus.
Tim Oliver Pröhm hat lange Erfahrungen mit HR-Prozessen, vor allem aus dem Recruitingblickwinkel. Als ehemaliger Verantwortlicher eines großes RPO-Dienstleisters (= Recruitment Process Outsourcing) hatte er stets ein natürliches Interesse an effizienten Personalbeschaffungsprozessen im Sinne seiner Kunden. Hinzu kommt das Tim mit großer Leidenschaft die HR-Tech-Entwicklungen verfolgt und sich seit geraumer Zeit auch als Beirat in US-amerikanischen HR-Technologiestartups einbringt. Aktuell ist er als Senior Director bei Kelly OCG verantwortlich für Strategie, Technologie und Innovation im Recruitingumfeld. Ein fachlich wirklich spannender Impulsgeber ist Tim in jedem Fall. Außerdem ist er übrigens auch ein Mann der Spaß versteht. 2015, beim HR BarCamp in Berlin, errang er den ersten Titel als Rhetorik-Champion in der legendären HR-Fight-Night. Rundum also ein feiner Gesprächspartner, den ich in Sachen digitale HR Tech Trends „ausfragen“ konnte. Die Antworten gibt es hier zu lesen.
Das Interview:
Christoph Athanas, meta HR: Hallo Tim, wir wollen etwas über HR Technologie sprechen, eines Deiner Steckenpferde. Daher zum Einstieg eine Überblick- und Orientierungsfrage zum Thema für meine Leserinnen und Leser:
Was sind aus Deiner Sicht als HR-Tech-Insider die aktuell wichtigsten und vermutlich nachhaltigsten Tech-Trends mit Blick aufs HR, gern mit Fokus auf Recruiting?
Tim Oliver Pröhm: Die vier Megatrends in HR und vor allem auch im Recruiting finden sich in dem Schlagwort „SMAC“ zusammen. Diese Abkürzung steht hierbei für Social, Mobile, Analytics und Cloud. Aus diesen vier Megatrends wird sich künftig sehr vieles ableiten und auch die Recruiting-Technologien werden maßgeblich von SMAC beeinflusst werden.
C.A., meta HR: Kannst Du das bitte etwas näher ausführen?
Tim Oliver Pröhm: Klar, werfen wir einmal einen Blick auf die einzelnen Bereiche:
Social: Das Recruiting wird künftig noch sozialer ausgerichtet sein und es wird deutlich mehr aus bestehenden Netzwerken und Talent Communities heraus rekrutiert werden – hierbei geht es nicht nur um Social Media, sondern um den Social Community-Gedanken an sich, bei dem Social Media aber natürlich eine Rolle spielen kann.
Mobile: HR wird nicht umhinkommen, alle Recruiting-Prozesse mobil zu optimieren, um den Recruiting-Prozess effizient und vor allem zielgerichtet abbilden zu können. Die mobile Verfügbarkeit betrifft die Karriereseite, mobile Bewerbungsmöglichkeiten über das Smartphone oder auch die Bewerberkommunikation und -interaktion über Messenger, wie z.B. WhatsApp.
Analytics: Um als HR-Organisation im Recruiting dauerhaft wettbewerbsfähig zu bleiben oder als Vorreiter diese Position zu behaupten, ist es eigentlich schon heute unumgänglich, sämtliche Prozessschritte zu messen, valide Daten zu sammeln und diese in einen transparenten Bezug zueinander zu bringen. Diese Transparenz der eigenen Daten trägt maßgeblich dazu bei, die Zusammenhänge im Recruiting besser zu verstehen und bei Bedarf einzelne Prozessschritte neu und effizienter ausrichten zu können. In einer weiteren Ausbaustufe wird auch der Bereich der „predictive analytics“ an Wichtigkeit gewinnen, der es ermöglicht, unter Nutzung verschiedener Datenquellen zukünftige Entwicklungen vorhersagen.
Cloud: Zukünftig werden immer mehr Applikationen webbasiert sein und auch immer mehr Personaldaten werden in Cloud-Lösungen gespeichert werden. Neben diverser Vorteile, die diese Cloud-Lösungen mit sich bringen, bringt dies natürlich auch weitere Herausforderungen, wie z.B. den Umgang mit personenbezogenen Daten mit sich.
Auf diese vier Trends und den damit verbundenen Anforderungen werden sich meiner Meinung nach alle künftigen Technologie-Lösungen ausrichten müssen.
C.A., meta HR: Bis vor wenigen Jahren konnte HR das Thema Technologie recht problemlos eher stiefmütterlich behandeln. Das kam dann höchstens bei der Auswahl und Einführung von HRIS (Human Resources Information Systemen) oder Bewerbermanagementsystemen (ATS) an die Oberfläche. Dort hat man dann meist eine große Multi-Funktionslösung gewählt und sich dann wieder Non-Tech-Themen zugewandt, so zumindest meine Erinnerung. Aus dieser Zeit stammt das heute immer noch oft anzutreffende vermeidliche Idealbild eines integrierten Systems, was gefühlt alles kann. Ich denke ebenso wie Du, dass dieses Zielbild heute nicht mehr wirklich gut passt. Daher frage ich Dich: Warum müssen Personalabteilungen von dem One-System-Fits-All abrücken und wie sehen clevere HR-Tech-Lösungen zukünftig stattdessen aus?
T.O.P.: Ein ERP (Enterprise Ressource Planning) -System ist eher statisch und nur bedingt flexibel. Anpassungen an spezifische Anforderungen sind, wenn überhaupt, meist nur schwer umsetzbar. Gerade Unternehmen in dynamischen Marktumgebungen stellt dies oftmals vor große Herausforderungen, da eine langfristige Planung fester und auf Dauer gleichbleibend beständiger Abläufe und Prozesse meist nicht möglich ist, bzw. für die Unternehmensentwicklung sogar schädlich sein können.
Will ein Unternehmen beispielsweise international expandieren, muss es die Ablauf- und Prozessstruktur flexibel auf die lokalen Anforderungen anpassen können, statt statischen Prozessen folgen zu müssen, die im ERP-System verankert sind.
Eine individuelle Pinpoint-Technologie, die sich je nach Bedarf zu- aber auch abschalten lässt, kann spezifische Situationen deutlich besser berücksichtigen und bietet den Unternehmen folglich auch deutlich mehr Flexibilität. Eine Anbindung an die bestehende IT-Infrastruktur erfolgt in der Regel über API (Application Programming Interface), noch idealer ist jedoch eine direkte Zusammenführung aller Daten aus ERP- und Pinpoint-Technologie.
C.A., meta HR: Ein großer digitaler Tech-Trend ist Automatisierung. Wo werden wir zukünftig mehr davon im HR-Kontext sehen? Mit welchen Konsequenzen?
T.O.P.: Die digitale Automatisierung sehe ich für HR keinesfalls negativ. Vielmehr bietet die Automatisierung HR die Möglichkeit, ganzheitlicher Businesspartner im Unternehmen zu sein und sich gezielt auf die Kernprozesse fokussieren zu können, die den größten Einfluss auf die Unternehmensentwicklung haben und die auch innerhalb der HR-Organisation den größten Mehrwert bringen.
Meiner Einschätzung nach wird die Automatisierung in HR zunächst bei Standardprozessen im BackOffice-Bereich und bei Shared Services Prozessen nach und nach Einzug halten. Die Automatisierung von Standardprozessen bietet HR meiner Ansicht nach die Möglichkeit, die persönlichen Beziehungen und Interaktionen wieder in mehr in den Mittelpunkt stellen zu können. Beispielsweise ist das Angebot eines „Employee Self Service“, über den der Mitarbeiter flexibel vom PC oder mobil über eine Unternehmens-App seine HR-relevanten Themen (z.B. Urlaubsanträge, Zeitkonto) selber steuern kann, bereits heute ein großes Thema für viele Unternehmen, wird von Mitarbeitern und Hiring Managern meist sehr geschätzt und entlastet vor allem die HR-Organisation im BackOffice-Bereich.
In einer weiteren Ausbaustufe sind meiner Ansicht nach auch in Europa und besonders auch in Deutschland deutliche Automatisierungen im Recruiting Prozess zu erwarten.
Viele Trends in den Bereichen HR-Technologie und HR-Automation werden nach wie vor in den USA gesetzt, finden ihren Weg nach ersten Erfolgen und einer nachweislichen Mehrwertsteigerung für die Unternehmen aber auch zügig über den „großen Teich“.
Gerade in der letzten Woche habe ich beispielsweise mit dem Chefpsychologen eines führenden Videointerviewanbieters in den USA telefoniert. Deren Technologie ermittelt mittlerweile aus einem absolvierten Videointerview spezifische Daten zu Stimme, Betonung und Mimik des Kandidaten. Nach vorangegangener Erstellung eines positionsspezifischen Anforderungsprofils können dann anhand dieser Daten automatisierte Einstellungsempfehlungen ausgesprochen werden. Mit diesem Beispiel möchte ich jedoch lediglich aufzeigen, was heutzutage bereits möglich ist. In welcher Form und in welchem Umfang ein Unternehmen die Automatisierung verschiedener HR-Prozesse für sich umsetzt, bleibt letztendlich jedem Unternehmen selbst überlassen. Für Unternehmen, die jährlich enorm viele (Initiativ-)Bewerbungen bekommen, entlastet die Implementierung dieser Technologie bereits heute schon einige HR-Organisationen – auch bereits hier in Deutschland.
C.A., meta HR: Die Landschaft der Recruiting-Tools wächst und wächst und wird unübersichtlicher. Bitte sag uns, welche konkreten Tools aus Deiner Sicht speziell für Recruiting gerade richtig spannend sind?
T.O.P.: Als Basis für einen effizienten Recruiting Prozess empfehle ich den meisten Unternehmen den Einsatz eines guten CRM (Candidate Relationship Management) -Systems, das sich flexibel auf die jeweiligen Bedürfnisse und Prozessschritte der unterschiedlichen HR-Organisationen ausrichten lässt. Der Einsatz eines CRM fördert effizient das aktive Pool-Management, ermöglicht den übersichtlichen Aufbau von Talent Communities, unterstützt maßgeblich das Active Sourcing und integriert beispielsweise auch die Alumni-Aktivitäten. Ein flexibles System lässt sich nach erfolgreicher Implementierung auch nachträglich noch ohne Probleme auf Prozessänderungen, dynamische Marktumgebungen oder internationale Expansionen anpassen.
Für Unternehmen mit konstantem Personalbedarf und vielen (Initiativ-) Bewerbungen lohnt sich oftmals auch der Einsatz einer Videointerview-Technologie, wie z.B. der Technologie von Viasto. Bei Beantwortung der vorherigen Frage bin ich bereits ein wenig auf die stetige Weiterentwicklung dieser Technologie-Anbieter eingegangen. Durch die Möglichkeit der Erstellung eines positionsspezifischen Anforderungsprofils sowie des gleichen positionsspezifischen Fragenkatalogs, lassen sich die Antworten der Kandidaten gut miteinander vergleichen, ins direkte Verhältnis zueinander setzen und auswerten. Ein nicht unerheblicher Vorteil ist natürlich auch die enorme Zeitersparnis für Kandidaten, Hiring Manager und die HR-Organisation, da im ersten Schritt der persönliche Austausch per Skype-Interview oder dem Vorstellungsgespräch vor Ort entfällt und das Interview bequem genau dann absolviert, bzw. angeschaut werden kann, wenn genügend Zeit und Ruhe dafür vorhanden ist.
Aber wo wir gerade beim Thema Zeitersparnis sind – Technologien, die ein automatisiertes Scheduling ermöglichen sind oftmals die wahren Helden der HR-Organisationen. Ist diese Technologie einmal sauber integriert, lassen sich Vorstellungsgespräche oder Onboarding-Prozesse bequem durch wenige Klicks terminieren und sparen dadurch gerade innerhalb der HR-Organisation enorm viel Zeit ein, die wiederrum für die relevanten Kernprozesse genutzt werden kann.
Auch im Bereich “Mobile Apply” gibt es mittlerweile interessante Technologie-Anbieter, die durch ihre mobilen Applikationen den Zuspruch vieler Kandidaten bekommen, den Bewerbungsprozess deutlich vereinfachen und zudem auch eine ganz neue Zielgruppe erschließen, die sich vermehrt mobil aufhält und nicht über die gängigen Stellenportale oder die Karriereseite auf die Vakanzen der Unternehmen aufmerksam werden. Die Technologie von Truffls beispielsweise scraped Stellenanzeigen über eine App auf das Smartphone und der Kandidat signalisiert durch entsprechendes swipen Interesse an der Position. Anschließend nimmt der Recruiter über die App Kontakt zu dem Interessenten auf und startet den gewohnten Recruiting Prozess.
Zu guter Letzt möchte ich noch kurz auf innovative Technologien zur Suche und Identifikation passender Kandidaten eingehen. Die Firma Talentwunder aus Berlin ist beispielsweise in diesem Bereich sehr professionell unterwegs. Gerade Active Sourcing Prozesse profitieren durch eine effiziente Identifizierung passender Kandidaten im Internet und in den sozialen Netzwerken enorm von dieser Art „Google für Kandidaten“.
C.A., meta HR: Wie schon vielfach gehört ist der Analytics-Bereich ein besonders verlockendes, aber auch herausforderndes Anwendungsfeld von HR Tech. Was sollten Unternehmen tun, um HR Analytics adäquat einsetzen zu können?
T.O.P.: In den meisten Unternehmen, die ich in den letzten Jahren kennengelernt und beraten habe, werden HR-relevante Daten in unterschiedlichen Systemen erhoben und verwahrt. Dies ist meist das größte Hindernis für eine ganzheitliche Betrachtung der erhobenen Daten, da diese meist mühsam aus verschiedenen Systemen zusammengesetzt, auf Validität geprüft und erst mühsam in den Bezug zueinander gebracht werden müssen.
Es ist ratsam, sich zunächst einen umfassenden Überblick über den vorhandenen Datenbestand im Unternehmen zu verschaffen. Anschließend empfiehlt es sich ein kleines Pilotprojekt zu entwickeln, um dann mit Hilfe von Datenanalysen ein konkretes Businessproblem zu durchleuchten und zu lösen. Behält man bei der Einführung von HR-Analytics immer das Ziel, bzw. ein konkretes Businessproblem vor Augen, lässt sich der Anwendungsbereich nach erfolgreicher Implementierung des Pilotprojektes in den meisten Fällen recht problemlos ausweiten.
C.A., meta HR: Ein augenzwinkerndes Off-Topic als Schlussfrage: Tim, Du bist immer noch amtierender HR Fight Night Argumentations-Champion. Den Titel hast Du in dem legendären Match über fünf Runden gegen Martin „Mr. Mythos“ Gaedt im Rahmen des HR BarCamp 2015 in Berlin errungen. Würdest Du nochmals in den HR-Rhetorik-Ring steigen und wenn ja, wen würdest Du Dir als Kontrahenten wünschen?
Tim Oliver Pröhm: Also ehrlich, Christoph, was für eine Frage! Selbstverständlich steige ich als amtierender Champion jederzeit gerne wieder in den HR-Rhetorik-Ring, um meinen Titel zu verteidigen! Alles andere wäre doch langweilig!
Mir hat der letzte rhetorische Fight mit Martin „Mr. Mythos“ Gaedt sehr viel Spaß gemacht, auch wenn mir vorher bei so einem Schwergewicht als Gegner schon ein bisschen die Knie geschlottert haben. Gegen Martin tritt man halt auch nicht mal eben so nebenbei an, das bedarf schon einer ausführlicheren Trainings- und gezielter Vorbereitungsphase.
Wenn ich mir einen Gegner aussuchen dürfte, würde meine Wahl vermutlich auf den amtierenden „Recruiter Slam“- Champion, Mr. Henrik Zaborowski, fallen. Schließlich wächst man ja an seinen Herausforderungen, nicht wahr? ;-)
C.A., meta HR: Wow, wenn das keine Kampfansage ist! Das wäre wahrlich ein Champions-Fight auf den man sich freuen dürfte! Da horcht das HR BarCamp Orga-Commitee garantiert auf ;-)
Lieber Tim, danke für das interessante Gespräch.
Über meinen Gesprächspartner:
Tim Oliver Pröhm ist seit über 15 Jahren in der Personalbranche tätig und beschäftigt sich vorrangig mit der Konzeption, der Optimierung und der Einführung von innovativen Personalprozessen. Durch seine Tätigkeit als Beirat in verschiedenen US-amerikanischen HR-Technologiestartups, hat er einen sehr guten Überblick über die aktuellsten Marktentwicklungen in diesem Bereich. Als Senior Director bei Kelly OCG ist er verantwortlich für Strategie, Technologie und Innovation im Recruitment Process Outsourcing. Er ist auch unter @tproehm auf Twitter zu finden.